Zu meiner Urlaubslektüre gehörten diese Woche zwei Artikel zur aktuellen netzpolitischen Debatte in den USA vor dem Hintergrund des Stop Online Piracy Act (SOPA) und des Protect IP Act (PIPA), zwei Gesetzesentwürfe die einen massiven Eingriff in die Netzfreiheit bedeuten würden. Die Artikel passen aber genauso gut auf die netzpolitische Tragödie der Berliner Politbühne. Es empfiehlt sich sehr, diese zu lesen.
Der eine mit dem Titel “Dear Congress, it’s no longer OK not to know how the internet works” argumentiert von Seiten der Aktivisten und stört sich an der Tatsache, dass ein Parlament ein Politikfeld drastisch regulieren will, dass es nicht versteht. Kontra gibt der Artikel “Dear Internet, it’s no longer OK not to know how Congress works”, der sich zwar inhaltlich auf die gleiche Seite schlägt, aber plausibel argumentiert dass von Berufspolitikern nicht erwartet werden kann, sich in jedes Fachthema einzulesen wie ein Doktorand, sondern es eine Sache erfolgreichen Lobbyismus ist, wie viel Aufmerksamkeit einem Thema zukommt, und die Netzaktivisten lernen müssen, mit den alten Waffen zu kämpfen. Es sei überhaupt nicht der Fall, dass Politiker sich lieber von finanzstarken Industrielobbyisten umgarnen lassen. Sie würden viel lieber genau wissen, was die Menschen in ihren Bezirken denken, aber dafür fehlt das technische Know-How, neue Arbeitsabläufe und das Werkzeug.
Internetversteher wissen ganz genau dass es kurz nach 12 Uhr ist in Sachen Freiheit des Internets, und dass Eingriffe in das Netz wie wir es als Gesellschaft gerne hätten schon längst viel zu weit gehen in manchen Bereichen. Vom JMStV bis SOPA, von ACTA bis Zensursula, drohen gravierende Veränderungen auf legislativer Ebene, die unser aller Umgang mit dem Internet radikal verändern können, aber auf Grund von recht spezifischen Problemen geschaffen wurden. Ob zwecks Jugendschutz, Terrorismusbekämpfung, Urheberrechtslobbyismus oder Kulturpolitik, was Gesetzesinitiativen in allen Ländern gemeinsam haben ist, dass sie zum einen viel zu umfangreich und viel zu weit gehen, und zum anderen meist auf einem Unverständnis des Netz basieren, zumindest des Netzes so wie es die Netzbürger und Techies sehen. Das Internet ist eine Bedrohung für den Status Quo Ante. Wenn man sich ansieht, welche Firmen für und gegen SOPA sind, wird klar, dass das Internet der Kriegschauplatz der New Economy gegen die Old Economy ist, der Boxring auf denen diejenigen, die das Netz als Chance verstanden haben es gegen diejenigen zu verteidigen haben, die davon (teilweise fälschlich angenommen) ihre Existenz (beziehungsweise die veralteten Geschäftsmodelle) bedroht sehen.
Wie können wir verhindern, dass wir im Neuen Jahr aufwachen und ein Netz vorfinden, in dem die Freiheit so stark eingeschränkt ist, dass eine digitale Agora nicht mehr stattfindet? Ein Netz das überwacht, kontrolliert, gefiltert und gelenkt ist? Ich kann mir nur eine Möglichkeit vorstellen: Umfassendsten Dialog. Und zwar auf und von allen Seiten - und das bedarf auch mehr Open Government. Das Volk muss von seiner Politik einfordern, dass Gesetzesinitiativen zu viel früheren Zeitpunkten öffentlich kommentierbar sind, dass es ausgewogenere Anhörungs- und Beteiligungsprozesse gibt, dass in allen Parteien, in allen Gremien (nicht nur einer Plazebo Enquete) über diese Themen diskutiert wird und die Internetversteher sich zusammen tun um der Gesellschaft die Tragweite dessen zu erklären, was der Großteil der Politik, der Wirtschaft und der Bevölkerung noch nicht zu verstehen scheint: Dass das Internet mehr ist, als eine Telefonleitung über die man Bücher bestellen kann, sondern dass es einen Raum schafft, der das Potential hat, unsere Gesellschaft zusammen zu halten, zu verbessern und zu gestalten, dass es mehr Chancen als Risiken birgt - und dass plumpe Regulierung aus der Feder von Hollywoodlobbyisten oder Law-and-Order Scharfmachern die Grundfesten unserer Gesellschaft torpedieren.
Vielen Dank fürs Lesen. Ich freue mich auf Kommentare und wünsche schöne Feiertage und einen guten Start ins neue Jahr.
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